Hängematten blues

Zugegeben. In der Hängematte unter einer Baumkrone und blauem Himmel oder am Ufer eines klaren Sees kommt man auf mancherlei neue Gedanken, hängt Tagträumen nach und vielleicht auch unbefriedigten Bedürfnissen. Die eine oder andere Fantasie reiht sich womöglich ein. Man überlegt was der Kühlschrank noch zum Abendessen hergibt oder ob man gleich noch Lust auf ein Twinni hat. Manchmal verirrt sich der Geist aber auch in recht unliebsames Gelände und katapultiert das Ego in Täler, die man lieber nicht (mehr) aufgesucht hätte.

Der Reihe nach. Es ist Sommer. Ein sehr heißer Sommer. Der heißeste seit Wetteraufzeichnungen weltweit, wenn man den Medien glaubt. Im letzten Stock einer Altbauwohnung eines Jahrhundertwende Hauses mit hohen Holzdecken und nicht isoliertem Dachboden darüber mitten in Wien glaubt man das gerne und schnell. Weil man vor Hitzeschüben nicht zum klar Denken kommt und weil man im Grunde ständig vom manischen Gedanken beherrscht ist, nur irgendwie, bitte, irgendwie, dieser Hitze zu entkommen. Also werden Camping Wochen verbracht und breakaways ins Waldviertel unternommen, auf deren Zuverlässigkeit an Sturmtagen mit Wind und Wetter und ausreichend (!) kühlem Nass getrost vertraut werden kann. Den Camping Wochen und Waldviertel Fluchten. Beide bieten den Vorteil, wirklich wirklich richtig abzukühlen, sodass man sich während dem Camping Aufenthalt eine Kapuzenjacke für den Abend kaufen muss und im Waldviertel zum ersten Mal seit Juni wieder nach Socken sucht. Im August.

Trotz aller Wetterkapriolen mit ständigem Wechsel der Sommer und Winter Garderobe haben diese Wochen dennoch eine fixe Konstante: Die Hängematte. Ständiger Begleiter und treu auch noch. Aber wie! Unzählige Attacken überschwänglicher Teenagermenschen und befreundeter Teenagermenschen überlebt sie, auch den Sturzbachregen, nicht einmal ächzt sie und nie lässt sie sich hängen und mich fallen, also nicht über ihren Hänge-Auftrag hinaus versteht sich. Nicht einmal nur ein einziges Rumgezicke. Alles in bester Ordnung. Sobald das Wetter halbwegs trocken ist, liege ich zuverlässig in der Hängematte, lese die anberaumten Sommer Bücher solange der Himmel eben trocken bleibt und döse zwischendurch ohne mich zu genieren weg. Beim Aufwachen gesellen sich zu den Figuren der Sommerlektüre plötzlich eingangs erwähnte Gedankengänge. Wenn das die Nebenwirkungen von „hang loose“ sind, dann bin ich lieber nicht entspannt.

Da kringeln sich meine Finger plötzlich um aus dem Knoten gerutschte Haarsträhnen, ich bemerke es und frage mich simultan, warum mein Atem stockt. Da bohren sich ernsthafte Fragen zur Existenz in meine Sommerfrische, reissen alle Schubladen und hinterste Fächer einer fast 50jährigen Biografie auf und spucken mir Sätze entgegen, die ich so doch bei niemandem bestellt habe! Kleine Veranschaulichung? Würde ich mich noch einmal in den Vater meiner Kinder verlieben, würde ich ihn heute treffen? Würde ich mich für eine Familie entscheiden, wenn ich heute noch einmal mit 20 bis 30 Jahren weniger auf dem Buckel vor der Entscheidung stünde? Würde ich mich überhaupt noch einmal für Kinder entscheiden? Würde ich mich trauen, Kunst oder Schauspiel oder Möbeldesign oder was weiss ich was Kreatives studieren, wenn ich noch einmal die Wahl hätte? Was willst du überhaupt mit deinem Leben noch anfangen? Moment mal. Noch. Da ist es dieses winzige fiese Wort. Noch.

Halleluja, ist dies der Sommer des Altwerdens? Der Sommer der überschrittenen Lebensmitte? Der Sommer der ultimativen Sinn- und Lebenskrise? Korreliert das mit der Klimaerwärmung, der narzisstischen Weltpolitik, der schreienden Ungerechtigkeit auf Erden? Habe ich nicht ausreichend Krisen hinter mir, da kann doch nicht (schon) wieder eine daherkommen? Muss das sein? Und obwohl die Finger immer noch um die Haarsträhne zwirbeln, entspannt sich der Körper plötzlich noch tiefer in die Hängematte hinein, lässt alle Muskeln fallen und den Kopf geruhsam auf den Haaren liegen, der Atem wird weit und richtig tief, ja, sanft will ich fast sagen und auf einmal ist alles richtig. Ich lächle.

Jahre des Experimentierens mit Yoga und Meditation zeigen doch noch Wirkung? Keine Ahnung. Ich bin am richtigen Platz, jedenfalls. Ich lächle die unliebsamen Fragen an. Ich flippe jetzt nicht aus. Ich brauche keine Selbstgedrehte, kein social media und auch keine Schokolade und kein Bier. Vielleicht ein Twinni? Ich habe alles richtig gemacht, die guten und die häßlichen Erfahrungen, sie gehören alle zu mir. Es gibt keine Reue, auch nicht für die blödsinnigsten dämlichsten Momente, die ich mir womöglich mit etwas Geduld und Nachdenken erspart hätte.

Es leuchtet mir ein. Einer Hängematte kann ich nichts vormachen. Sie stützt jede Faser des müden Körpers, sie spielt dir deine unliebsamen Gedankenausflüge einfach nur zurück und fängt dich dabei zuverlässig auf. Ich empfehle den Hängematten blues jedem, Freund*in wie Feind*in, ganz gleich. Legt euch in Fallschirmseide oder Leinentuch, unter Baumkronen, ans Wasser oder in den Hinterhof, wie es euch beliebt, aber lasst euch fallen. Am Ende ist das Getragenwerden eine Wohltat und kein Müßiggang, wie das gerne kolportiert wird. Mit Sicherheit nicht. Ich möchte fast sagen, das Durchhängen ist der Quell aller Ideen. Am Ende hat mich die Hängematte mit allen Sturm- und Hitzetagen in den „feelgood“ Modus geschaukelt. Und mir die Muße geschenkt, meine Workshops für Kreatives Schreiben zu notieren und unter die Leute zu bringen. Vielleicht schreiben wir demnächst auch in der Hängematte. Seid ihr dabei?


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Comments

2 Antworten zu „Hängematten blues”.

  1. Avatar von wortreigen

    Ich liege gerade auf einem Campingbett auf der Terasse, Etwas unbestimmtes lässt mich weiter warten. Was wäre wenn die Menschen bloß mehr Zeit für die Muße verbrächten? Würden wir uns womöglich weniger ums Klima sorgen?

    1. Avatar von frei* schreiben, atmen, denken, sein

      vielleicht würden wir weniger Klima belastend in den Urlaub fahren oder gleich auf der Terrasse bleiben 😉 mehr Zeit für die Muße zu geben, ist ein Ansatz, den ich unterstützen kann 🙂

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